Abstract. Das Requirements Engineering (RE) wird typischerweise in der Standardliteratur über gescheiterte Projektvorhaben basierend auf Anforderungsproblemen motiviert. Umfragen zeigen jedoch, dass insbesondere bei genau der Motivation des RE ein Verbesserungsbedarf besteht. Die Idee ist auf Basis einer Analogie zu dem Alltagsproblem der Auswahl eines Fahrradschlosses einen neuen Ansatz zu entwickeln. Dieser Beitrag stellt diesen Ansatz und seine Übertragung auf das RE kurz vor und zeigt, wie damit der Wert des RE nicht nur ermittelt, sondern auch kommuniziert und motiviert werden kann.
Einleitung
Das Requirements Engineering (RE) ist eine wichtige Disziplin im Softwareentwicklungsprozess. Gescheiterte Projektvorhaben haben häufig Mängel in diesem Bereich als Ursache. Gerne wird hierbei beispielsweise der CHAOS Report der Standish Group [1] zitiert, um diese Problematik zu belegen. Letztendlich wird damit auch versucht, die Durchführung des RE zu motivieren.
Viel genützt hat dies jedoch offensichtlich bisher nicht. In der letzten Umfrage des RE Kompass [2] nannten mehr als 40% der Teilnehmer, dass die größte Herausforderung die Motivation für die Einführung und Einhaltung des RE in ihrer eigenen Organisation ist. Innerhalb der RE Disziplin selbst scheint dies Thema nicht weiter relevant und durch entsprechende Kapitel in der Fachliteratur abgegolten zu sein. Hier werden typischerweise Studien angeführt, die sich beispielsweise mit gescheiterten Projekten oder mit der Betrachtung des Return-on-Investment (RoI) auseinandersetzen [3]. Für Verantwortliche lassen diese jedoch einige Fluchtwege offen, um sie als „kontext-fremd“ und „nicht vergleichbar“ abzulehnen.
Am Ende bleibt, dass viele Argumente auf die allgemeine Vernunft bzw. die Angst beim Adressaten abzielen—ähnlich wie es bei Versicherungen der Fall ist. Genau der letzte Gedanke offenbart nun jedoch eine neue Ansatzmöglichkeit. An dieser Stelle weitergedacht stellt man nämlich schnell fest, dass das RE, wie Versicherungen, etwas Absicherndes hat. Allerdings gibt es auch einen bedeutenden Unterschied: das RE verhindert vor allem aktiv den Eintritt von Risiken, während Versicherungen eher die Folgeschäden nach Risikoeintritt zu mindern versuchen. Beides ist im Risikomanagement als Mitigation- (Eintrittswahrscheinlichkeit vermindern) bzw. als Contingency- (Folgen abmildern) Strategie bekannt [4].
Die Idee ist nun, den Gedanken einer Mitigation-Strategie zu einem neuen Motivationsansatz weiterzuentwickeln. Auf Basis des in [5] beschriebenen Risikomanagements im RE wird hierfür ein Ansatz zur Wertermittlung des RE geschaffen. Dieser Beitrag beschreibt den ersten Schritt dieses Vorhabens, der die Operationalisierung des Problems anhand einer Analogie zur der Beschaffung eines Fahrradschlosses beispielhaft einführt. Danach wird gezeigt, wie sich das Ganze dann auf das RE übertragen lässt.
Ansatz
Jeder, der sich schon einmal ein Fahrrad gekauft hat, stand schon vor der Entscheidung, wie er das Risiko des Diebstahls verhindert. Fahrradschlösser sind hier, ähnlich wie das RE, ein naheliegender, aktiver Ansatz zur Verminderung des Risikoeintritts. Die Motivation hinter dem Ganzen ist der mögliche Verlust des Fahrrades. Es besteht das Risiko des Totalverlusts in Höhe des Fahrradwertes. Ein für den jeweiligen Einzelfall sehr konkreter Wert. Doch auch ein Fahrradschloss kostet Geld (ähnlich wie der Aufwand im RE) und die Auswahl ist riesig (wie es auch verschiedene REler gibt)—alles in allem entsteht ein Entscheidungsproblem in der vorliegenden Situation.
Im Gegensatz zu den RE/PM-Studien lässt sich diese Situation jedoch sehr leicht operationalisieren. Man benötigt hierzu folgende Informationen: den Wert des Fahrrades, den Kaufpreis des jeweiligen Fahrradschlosses, sowie die Schlossspezifische Wahrscheinlichkeit, dass ein Diebstahl auftritt (genau genommen gibt es noch Gebietsspezifische Wahrscheinlichkeiten, die für eine Vereinfachung an dieser Stelle ausgelassen werden). Für ein konkretes Beispiel nehmen wir den Fahrradwert von €500 an. Für das Schloss gibt es beispielsweise zwei Alternativen, die in der Tabelle 1 mit den benötigten Kennzahlen dargestellt sind.
Die Lösung liegt in der Minimierung des kalkulatorischen Gesamtschadens (Zielfunktion) unter Berücksichtigung der jeweiligen Risikowahrscheinlichkeit:
Übertragung ins RE
Das Ganze funktioniert auch im RE. Der Hauptunterschied zur Fahrradschlosskalkulation besteht darin, dass es nicht nur ein, sondern mehrere Risiken mit den dazugehörigen Wahrscheinlichkeiten gibt. Die Eintrittswahrscheinlichkeit (p) kann sich jetzt auch aus verschiedenen Faktoren zusammensetzen. Beispiele sind die Wahrscheinlichkeit der Projektbetroffenheit, die Anforderungsbetroffenheit und die Effektivität derjenigen, die die Anforderungen erheben und verwalten. Beispiel: Risiko 1 tritt in 50% der Projekte auf, betrifft dann 50% der Anforderungen und der zuständige REler verhindert 50% davon ergäbe für die Eintrittswahrscheinlichkeit einen Wert von p=0,5*0,5*0,5=0,125.
Der zweite Bestandteil der Gleichung, der Schaden (s), ist im RE häufig ein erhöhter Aufwand, der in Prozent des Gesamtaufwandes des jeweiligen Projektes ausgeführt werden kann. Unter Anwendung eines mittleren Stundensatzes gelangt man zu den Kosten (oder man nimmt direkt die Kosten, falls sie entstehen). Beispiel: Risiko 1 erzeugt bei Eintritt einen Schaden von 10% des Projektaufwandes. Beträgt letzterer 200 Personen Tage (PT) sind dies 20 PT. Bei einem Tagessatz von €400 erhält man einen Schaden von €8.000. Weiterer Bestandteil der Betrachtung sind die Kosten des RE (k).
Wie beim Fahrradschloss ist letztendlich die Idee, die Gesamtkosten zu minimieren, wobei die kalkulatorischen Einzelschäden der Risiken zu addieren sind, zu denen am Ende die RE Kosten hinzukommen. In letzteren stecken die Aufwände für den Einsatz eines Requirement Engineers. Seine Wirksamkeit steckt Risikospezifisch in den jeweiligen Wahrscheinlichkeiten.
Tabelle 2 wendet das Ganze auf ein Projekt mit einem Umfang von 200 PT (Tagessatz €400) an. Zur Auswahl steht, entweder kein RE oder ein Requirements Engineer zu Kosten von €100.000 für den Projektzeitraum einzusetzen. Letzterer verhindert zu 90% das Eintreten der beiden Risiken.
Das Ergebnis zeigt, dass der kalkulatorische Gesamtschaden mit dem Requirements Engineer geringer ausfällt als ohne ihn.
Diskussion
Der hier vorgestellte Ansatz bietet einen großen Vorteil: er lässt die möglichen Schäden, die durch das RE in der Regel aktiv verhindert werden, sichtbar, kalkulierbar und damit kommunizierbar machen. Insgesamt erlaubt der Ansatz sogar innerhalb eines flexiblen RE Ansatzes festzulegen, wieviel RE gemacht werden sollte bzw. kann (insbesondere auch, wann RE zu teuer wird), da die RE Kosten und seine Wirkung (als Teil der Eintrittswahrscheinlichkeit) ein Teil der Betrachtung sind. Auf diese Weise kann gezielt entschieden werden, ob beispielsweise das RE als halbe oder ganze Rolle durchgeführt wird.
Der große Nachteil des Ansatzes ist seine Voraussetzung: Die Daten zu Risiken, deren Wahrscheinlichkeiten und Auswirkungen müssen vorliegen. Insgesamt hilft diese Art der Betrachtung jedoch bei der konkreten Darstellung des Wertes des gewählten RE Ansatzes und dadurch letztendlich bei seiner Motivation.
Referenzen
- Standish Group (1999). CHAOS: A Recipe for Success.
- Adam, S., Seyff, N., Wünch, C. (2015), RE-Kompass 2014/15 Ergebnisbericht. https://www.hood-group.com/fileadmin/user_upload/requirements/Downloads/Paper/DE/HOOD_RE-Kompass_2014_15_v1.6.pdf (30.09.2015)
- Ebert, C. (2012). Systematisches Requirements Engineering. 4. Aufl. dpunkt Verlag 2012 (Affiliate Link)
- PMI (2013). A Guide to the Project Management Body of Knowledge: PMBOK (5. Ed), PMI 2013 ( Affiliate Link)
- Oemig, C. (2014). Von Kausalketten zum Risiko Register: Praktisches Risiko Management für das Requirements Engineering
- Vortrag beim 5th European BA Day 2024 - 13. Mai 2024
- UX Designer by Default - 13. März 2023
- Zur Lage des Requirements Engineering: Der RE-Kompass - 1. Februar 2023